Samstag, 26. Mai 2012

Die Quellen der Disneyfilme: Dornröschen

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Das Märchen von der schlafenden Prinzessin, die bei uns als Dornröschen bekannt ist, kann auf eine Summe von vielfältigen Quellen zurückblicken. Die in Deutschland gebräuchlichste Version ist die der Gebrüder Grimm, die unter dem Titel „Dornröschen“ (oder englisch „Little Briar Rose“) erstmals 1812 erschien. Es ist mit knapp fünf Seiten eines der kürzeren Hausmärchen und erzählt die Geschichte ohne viele Schnörkel:

Ein König und eine Königin bekommen endlich eine Tochter. Bei der Taufe des Kindes laden sie nur zwölf der dreizehn Feen des Landes ein, was die Gekränkte mit einem Fluch belohnt: In ihrem fünfzehnten Jahr soll sich das Mädchen an einer Spindel stechen und sterben, ein Los, das durch eine der anderen Feen in einen hundertjährigen Schlaf umgewandelt wird. Einige Jahre später stößt Dornröschen beim Spielen auf eine alte Frau an ihrem Spinnrad und der Fluch erfüllt sich; zusätzlich bringt die gute Fee das gesamt Schloss zum Schlafen und im Laufe der Jahre wird es von einer gewaltigen Dornenhecke umwachsen. Hundert Jahre später gelingt es einem Königssohn, die Dornenhecke zu durchdringen, gerade rechtzeitig um Dornröschen mit einem Kuss zu wecken und zu seiner Braut zu machen.

Wie die Gebrüder Grimm schon in ihren Anmerkungen zu dem Märchen schreiben, ist dies nicht die einzige populäre Version der Geschichte. Charles Perrault erzählte schon 1697 in seiner Märchensammlung „La Belle au Bois Dormant“; wörtlich „Die Schöne im schlafenden Walde“ oder auf Englisch „Sleeping Beauty“.
Auch wenn die Geschichte um einiges ausführlicher geschrieben ist, so unterscheidet sich der erste Teil doch kaum von der späteren Grimm-Version. Bei Perrault sind es statt zwölf nur sieben gute Feen, der Fluch setzt kein spezielles Datum, sondern erfüllt sich einfach „nach 15 oder 16 Jahren“ und die Wälder um das Schloss herum wachsen durch Zauber sofort. Dazu kommt ein Erzähltonfall, der statt gediegenem Ernst ein leichtes Augenzwinkern in die Geschichte einbringt, etwa wenn der Prinz für sich feststellt, dass seine junge Braut gekleidet ist wie seine Großmutter.
Wodurch sich diese Version aber deutlich unterscheidet, ist der zweite Teil des Märchens; im Gegensatz zu allen moderneren Fassungen endet die Geschichte hier nicht mit der Erweckung, sondern geht noch längere Zeit weiter. Die Besuche des Prinzen im versteckten Schloss ziehen sich unbemerkt über zwei Jahre und während dieser Zeit schenkt die namenlose Prinzessin ihm zwei Kinder: ein Mädchen namens Aurora oder Morgenröte und einen Jungen namens Tag. Schließlich wird der Prinz König und bringt Frau und Kinder mit in sein Schloss, auch wenn er nach wie vor Sorge wegen seiner Mutter hat, die über Ogerblut und dadurch über einen Heißhunger auf Kinderfleisch verfügt. Als er für längere Zeit in den Krieg zieht, verlangt die Königinmutter bald, erst Morgenröte, dann Tag und dann die junge Königin selbst zum Essen serviert zu bekommen. Der Haushofmeister versorgt sie stattdessen mit Tierfleisch, doch schließlich bemerkt sie die Täuschung und will sich grausam rächen. Gerade im rechten Moment kehrt der König heim und rettet Frau und Kinder, während sich seine Mutter in die eigene Viperngrube stürzt.

Perraults Märchen selbst ist wiederum auch kein Original; es basiert auf der Geschichte „Sole, Luna, e Talia“ aus dem Pentamerone von Giambattista Basile. In dieser etwas erwachseneren Version weckt der König die Schlafende nicht mit seinem Kuss, sondern vergewaltigt sie und bekommt von ihr zwei Kinder, während sie noch schläft. Außerdem ist die missgünstige Königin nicht die Mutter, sondern seine Ehefrau.
Ansonsten ist als mögliche Wurzel der Geschichte noch die Nibelungensage zu erwähnen, in der Brunhild von Wotan mit einem Schlafdorn gestochen und in ihrem Schloss hinter einem tödlichen Feuerwall verborgen wird, so dass nur der würdige Recke sie erlösen kann. Siegfried allein gelingt es, die Gefahr zu durchdringen und die Schlafende als Geliebter zu erwecken.
Diese Parallelen zu urdeutschem Sagengut waren im übrigen überhaupt nur der Grund, warum die Grimm-Brüder das Märchen in ihrer Sammlung behalten haben, obwohl es auf so eindeutige Weise auf der französischen Version beruht.


Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Märchen dadurch besonders populär, dass Pjotr Iljitsch Tschaikowski die Version nach Perrault zum Thema eines großen Ballettes machte. Auch diese Fassung erzählt nur den ersten Teil der Geschichte und könnte von den Einzelheiten her genauso gut auf der deutschen Version basieren: In diesem Fall haben wir es mit sechs guten Feen zu tun und der verhängnisvolle Stich findet genau am sechzehnten Geburtstag statt, außerdem ist es hier ausdrücklich die böse Fee Carabosse, die in Verkleidung an der Feier teilnimmt und der Prinzessin den Rosenstrauß mit der versteckten Spindel überreicht.
Speziell auf Perrault weist allein der Name der Hauptfigur hin, Aurora, der vom Namen ihrer Tochter übernommen wurde. Der Prinz trägt den deskriptiven Titel Prince Desiré, was man im englischen etwa mit Prince Charming übersetzen könnte.



Als man sich bei Disney dazu entschied, Dornröschen zu einem groß angelegten Zeichentrickfilm zu verarbeiten, gab es also eine Unmenge an möglichem Material, das als Vorlage benutzt werden konnte. Offiziell basiert der Film, der 1959 als letztes Märchen unter Walt Disney selbst erschien, auf Perraults Geschichte, doch wie in dem Ballett wurde das Grimm‘sche Ende als Finale genutzt und auch sonst zeigt der Film keine spezielle Affinität zu Perraults Version. Nach längerer Überlegung kam es zu der Entscheidung, für den Soundtrack und die Lieder die schon bekannte Musik aus Tschaikowskis Ballett zu verwenden und auch wenn es zu keiner strikten Ballettverfilmung wurde, ist spürbar, dass auch diese Bearbeitung der Geschichte in das Werk mit einfloss.

Die Tatsache, dass sich Disney verschiedener Versionen bedient, wird schon im Namen der Prinzessin angedeutet; sowohl das französische „Aurore“ oder „Aurora“ als auch das deutsche „Briar Rose“ oder „Röschen“ kommen zu ihrem Recht. Im Deutschen führt diese Benennung allerdings zu einem gewissen Namenschaos, da zu den beiden Filmnamen auch noch der offizielle Name des Filmes selbst dazukommt. Damit führt Dornröschen die Tradition von Schneewittchen und Cinderella insofern fort, dass man in den drei Disney-Märchen mit teilweise deutschem Ursprung in keiner Weise eine konsequente Übersetzung der Namen durchführen konnte.


Die Veränderungen, die der Film an der Geschichte vornimmt, sind schnell aufgezählt. Die Anzahl der guten Feen ist weiter auf drei heruntergesenkt, dafür besitzen sie im Gegensatz zum Märchen alle einen eigenen Charakter und erhalten durch den Plan, Aurora im Wald zu verstecken, einen bleibenden Platz in ihrem Leben. Die Beziehung zu Prinz Phillip wird schon von ihrer ersten Begegnung während der Taufe an angedeutet und durch das zufällige Treffen im Wald weiter ausgebaut, wodurch die beiden eine erheblich tiefere Beziehung haben als die Liebespaare der früheren Disney-Märchenfilme. Es ist wohl häufig das Los eines für seine Zeit „fortschrittlichen“ Werkes, im Nachhinein und späteren Vergleich als hoffnungslos altmodisch zu gelten.
Der Fluch setzt speziell das Ende des sechzehnten Geburtstages als Stichpunkt - eine Tatsache, die die verfrühte Rückkehr der Feen zu einer recht zweifelhaften Entscheidung macht. Und wie auch bei Tschaikowski ist es Malefiz selbst, die Aurora zu der verzauberten Spindel und damit ins Verderben lockt.


Aber am stärksten betreffen die Veränderungen das Finale des Films. Die ganze Beziehung zwischen Aurora und Phillip wird nur dadurch möglich, dass der Gegenfluch nicht mehr die Frist von hundert Jahren, sondern den Kuss der wahren Liebe als Erlösung setzt; der originale Wortlaut kommt nur noch in Gestalt von Malefiz‘ höhnischen Worten zum Tragen. Dadurch wird die Parallele zu Schneewittchen, Disneys anderer schlafender Prinzessin, noch offensichtlicher, da ja schon dort das Ende zugunsten eines romantischen Finales verändert wurde. Außerdem wurde somit Platz geschaffen für einen der ikonischsten Film-Kämpfe überhaupt: Nachdem Phillip gefangen wurde, befreit er sich mit Hilfe der guten Feen, reitet zum Schloss und schlägt sich gegen Malefiz, die ihn in Gestalt eines riesigen Drachen erwartet.
Dieses großangelegte Action-Finale ist vor allem interessant, wenn man an die früheren Einflüsse des Märchens denkt: Nicht nur das Motiv des strahlenden Helden, der die Schlafende durch seine Liebe erweckt, sondern gerade der finale Kampf rufen die Erinnerung an die Nibelungensage wach. Auch Siegfried muss mit Hilfe seines Zauberschwertes zuerst den Drachen erschlagen, ehe er als Held würdig ist, den Feuerwall zu durchdringen. Ob diese Anlehnungen an die alte Sage nun bewusst geschahen oder nicht, sie führen dazu, dass das Märchen seinem angeblichem „Ursprung“ wieder näher kommt.
Außerdem bediente man sich an einigen seinerzeit fallengelassenen Entwürfen für Schneewittchen: Schon damals gab es Pläne, einige Szenen zwischen dem Prinzen und der bösen Königin einzubauen, in denen sie ihn spottend gefangen hält, bis er sich durch eine spektakuläre Flucht befreien kann. Auch das Zusammensein von Aurora mit dem zusammengebastelten „Ersatzprinzen“ und schließlich der Tanz in den Wolken basieren auf Konzepten des älteren Films, die damals aus Zeit- und Geldmangel, wie auch wegen künstlerischer Schwierigkeiten aufgegeben wurden.



Bei Dornröschen gab man sich sichtlich Mühe, durch die Kombination der verschiedenen Einflüsse eine eigene Version zu kreieren und eine dramaturgisch optimale Handlung zu erschaffen. Es scheint umso enttäuschender, dass das Ergebnis den eigenen Ansprüchen so wenig gerecht zu werden scheint.
 Die seltsam verschobene Gewichtung der Geschichte wird seit Uraufführung des Films immer wieder kritisiert und es ist nicht zu übersehen, dass die vier Feen in dieser Fassung eindeutig im Vordergrund stehen. Diese Figuren sind wirklich gelungen; dadurch, dass Flora, Fauna und Sonnenschein nur noch zu dritt sind, bleibt jeder von ihnen mehr als genug Raum für eine ausführliche Charakterisierung. Auch Malefiz lässt trotz simpler Motivation das Klischee der bösen Hexe problemlos hinter sich und steigt mit ihrer bösartigen, doch gleichzeitig feenhaften Eleganz zu einer ikonischen Stellung auf. Die menschlichen Hauptfiguren haben mit ihren Persönlichkeiten allerdings nicht so viel Glück und bleiben allesamt bemerkenswert blass. Dornröschen selbst ist in ihrem Film weniger als 18 Minuten anwesend und redet genau wie Phillip ab der zweiten Hälfte kein Wort mehr.


Sieht man sich den Film an, wird es offensichtlich, dass das Hauptaugenmerk während seiner Erstellung auf einem anderen Punkt lag. Das Werk lebt von seiner großartigen visuellen Leistung, die ihn seinerzeit zu einem finanziellen Disaster machte, und der altmodisch-düstere Stil mittelalterlicher Wandteppiche durchzieht die gesamte Stimmung. Vielleicht bestand das Konzept für die Entwicklung der Handlung zum Teil darin, den gleichen markanten Stil auch auf die Story anzuwenden und mit einer simpleren Charakterisierung den düsteren, schmucklosen aber gloriosen Eindruck des Gesamtwerkes weiter zu unterstreichen. Man könnte sagen, dass sich die Hauptfiguren in ihrer Zweidimensionalität genau in den Gemäldestil des Filmes einfügen, während die Feen für die emotionale Seite zuständig sind. Ob dieser Gedanke aufgeht, muss wohl jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden.
Der ganze Film ist fraglos ein hochgradig stilisiertes Kunstwerk und es ist nicht schwer zu erklären, warum ein initialer Misserfolg an den Kinokassen schließlich in einen solchen Klassikerstatus mündete. Disneys 16. Zeichentrickfilm hat die Bezeichnung Meisterwerk mit Sicherheit verdient und bietet dem Zuschauer einen nach wie vor einmaligen Augen- und Ohrenschmaus. Doch der Hauptnachteil von Dornröschen liegt wohl darin, wie nahe der Film in seiner Suche nach einer definitiven Version des Märchens an der Perfektion vorbeigeglitten ist.



Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

7 Kommentare:

Lieschen hat gesagt…

Ich muss ein bisschen Germanisten-klugscheißen: du sprichst vom Nibelungenlied, das ist aber schlicht falsch. Den Stoff, den du erwähnst, findet man in der nordischen Ausprägung der Nibelungensage (also unter anderem in den Eddas verschriftlicht). Das deutsche Nibelungenlied hat eine ganz andere Story, in der man Dornröschen beim besten Willen nicht erkennen kann. Die Brüder Grimm konnten es aber trotzdem für urdeutsch halten, da das Nibelungenlied lediglich die erste Verschriftlichung des Nibelungestoffs in deutscher Sprache ist, es folgten einige weitere und unter diesen wird auch der nordische Stoff verwendet. Richard Wagner orientierte sich übrigens gar nicht am Nibelungenlied, sondern nur an der nordischen Ausprägung der Sage.
Ich wünsche ein schönes Wochenende :)

Ananke hat gesagt…

Stimmt, da sind die verschiedenen Ausprägungen wieder etwas verworren - ich hatte den Begriff "Nibelungenlied" hauptsächlich verwendet, weil ich dachte, dass damit noch die meisten etwas anfangen können.

Das Originalzitat der Gebrüder Grimm lautet: „Die Jungfrau die in dem von einem Dornenwall umgebenen Schloß schläft, bis sie der rechte Königssohn erlöst, vor dem die Dornen weichen, ist die schlafende Brunhild nach der altnordischen Sage, die ein Flammenwall umgibt, den auch nur Sigurd allein durchdringen kann, der sie aufweckt. Die Spindel woran sie sich sticht und wovon sie entschläft, ist der Schlafdorn, womit Othin die Brunhild sticht; vergl. Edda Sämundar 2, 186.“

Dr-Lucius hat gesagt…

Es gibt so Klopapier mit Matheformeln drauf, für Klugscheisser... ^_____^

maloney hat gesagt…

Immer noch einer der besten Villains in einem Disneyfilm!

Anonym hat gesagt…

DANKE Anake, ich wollte es dir eigentlich schon beim Glöckner sagen, hatte dann aber keine Zeit um zu posten, daher hier nochmals Danke!

Beiträge wie deine Gastbeiträge (auch schon zu Fantasia) sind es, weshalb ich vo Jahren anfing diesen Blog zu verfolgen. Das erfreut mich und finde ich interessant zu lesen. Das Ende des Beitrags kam etwas abrupt und unerwartet, aber ansonsten habe ich daran nichts auszusetzen.
Meine Lieblingsgedankengänge waren folgende beiden:

Es ist wohl häufig das Los eines für seine Zeit „fortschrittlichen“ Werkes, im Nachhinein und späteren Vergleich als hoffnungslos altmodisch zu gelten.

Vielleicht bestand das Konzept für die Entwicklung der Handlung zum Teil darin, den gleichen markanten Stil auch auf die Story anzuwenden und mit einer simpleren Charakterisierung den düsteren, schmucklosen aber gloriosen Eindruck des Gesamtwerkes weiter zu unterstreichen.

- Danke nochmals, du bist mit deinen Überlegungen und Analyse eine wertvolle Bereicherung für Donnerbolds Arbeit. :)

Ananke hat gesagt…

Wie schon die Blaue Raupe sagte: Danke für das Looob!
;-)

Anonym hat gesagt…

Jetzt vergleich mal Malefiz aus dem Film mit Loki aus der germanischen Mythologie. Es ist die Rede von einem Asentreffen der 12 Götter. Loki, der dreizehnte, eine Mischung aus Gott und Teufel, war zunächst nicht eingeladen. Er musste Odin überreden, einen Sitz zu erhalten. So war er verletzt und beleidigte beim Treffen die anderen Götter und sagt etwas Böses voraus (einen Weltbrand). Malefiz erstes Auftreten entspricht exakt der beschriebenen Situation. Zumal Malefiz selbst irgendwie zu den Feen gehört, aber trotzdem den Teufel verkörpert. Da würde die Beziehung zum Brynhild-Mythos eher in Frage kommen, da sowohl Odin als auch Loki Teil ihrer Welt sind. PS: ich schreibe gerade eine Hausarbeit über dieses Thema.

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