Samstag, 18. Mai 2013

Die Quellen der Disneyfilme: Das Dschungelbuch

 
Von Legenden zu historischen Ereignissen, von Märchen bis zu klassischer Literatur - die Zauberkünstler von Disney haben sich der vielfältigsten Quellen bedient, um Stoff für ihre Filme zu finden. Gemein haben sie jedoch alle, dass das Ursprungsmaterial nicht ohne Veränderung in den Disney-Kanon eingeflossen ist.

 

Diese Reihe von Im Schatten der Maus befasst sich mit dem Entstehungsprozess einiger dieser Meisterwerke:
Die Quellen der Disneyfilme

Rudyard Kiplings Dschungelbuch ist eine 1894 erschienene Sammlung von sieben Kurzgeschichten, die zuvor in verschiedenen Zeitschriften veröffentlicht wurden. Davon sind vor allem die drei im allgemeinen Gedächtnis verankert, die von dem Menschenjungen Mogli und seinen Abenteuern im Dschungel erzählen:
Die erste Geschichte Moglis Brüder handelt von Moglis Ankunft bei den Wölfen, nachdem der Tiger Shir Khan seine Eltern verjagt hat. Durch die Fürsprache vom Bären Balu und dem Panther Baghira wird Mogli im Wolfsrudel aufgenommen und verbringt dort die nächsten Jahre als Bruder der Wölfe. Als Mogli zehn Jahre alt ist, wenden sich die jüngeren Wölfe unter Aufstachelung von Shir Khan gegen ihn. Er holt sich das Feuer aus dem Menschendorf, um Shir Khan und die Wölfe abzuwehren und macht sich schließlich auf den Weg zurück zu den Menschen.
Kaas Jagdtanz spielt drei Jahre zuvor, während Mogli von dem strengen Lehrer Balu für das Leben im Dschungel unterwiesen wird. Die führerlose Affenbande erkennt Mogli als ein ihnen ähnliches Wesen und entführt ihn, um ihn zu ihrem Anführer zu machen. Um den Jungen zu retten, wenden sich Balu und Baghira an den Felsenpython Kaa, um ihnen im Angriff auf die Affenbande beizustehen. Am Ende hypnotisiert Kaa, der den „bösen Blick“ hat, die Affen mit seinem Tanz und auch Balu und Baghira wären ihm gefolgt, wenn nicht der gegen den Schlangenzauber immune Mogli sie zur Vernunft bringen würde.
In Moglis Siegeslied wird Moglis Leben im Menschendorf geschildert, wobei sich die Eingeborenen für den Jungen als „beinahe so töricht wie die Affen“ herausstellen. Als er schließlich endgültige Rache an Shir Khan nimmt (er fängt den Tiger in einer Schlucht mit steilen Wänden und hetzt mit Hilfe der Wölfe eine Büffelherde in die Schlucht, wo der Tiger zu Tode getrampelt wird - womöglich Inspiration für ein anderes Disney-Meisterwerk?) will ihm ein Bauer seinen Erfolg streitig machen. Mogli wendet sich von den Menschen ab und kehrt in den Dschungel zurück, wo er nun abseits sämtlicher Rudel alleine leben will.
Dazu beinhaltet das Buch vier Einzelgeschichten über andere Tierschicksale, bei denen immer wieder dasselbe Thema heraussticht: der Kontrast zwischen dem tüchtigen Einzeltier und der dummen und vorurteilsbehafteten Masse.



Die Verfilmung Das Dschungelbuch, die 1967 als letztes wirklich von Walt Disney überwachtes Meisterwerk erschien, nutzt nur die ersten beiden Geschichten des Buches (und Kiplings Fortsetzung Das zweite Dschungelbuch wurde quasi überhaupt nicht beachtet). Von Disney selbst stammte die Anweisung an sein Team, das Buch nicht zu lesen und sich bewusst vom Original abzukoppeln - da kaum einer der Zuschauer das Buch gelesen haben wird, meinte er, dass auch der Film das nicht nötig hat.
Dabei unterscheiden sich Buch und Film weit weniger, als man es bei diesem Ansatz erwarten könnte. Kiplings Buch ist ein Episodenroman, der an sich nicht allzu viel Material bietet, und so ist eine Überarbeitung der Geschichte nicht zu vermeiden, doch entfernt sich die Verfilmung nicht weiter vom Original als beispielsweise schon seinerzeit für Pinocchio. Ein Großteil des gefühlten Unterschiedes liegt wohl auch hier in der allgemeinen Stimmung des Filmes, der weit freundlicher und „familientauglicher“ erscheint als der eher düstere Roman.

Doch noch größere Bedeutung liegt in der Frage der Figurenzeichnung. Mehr als in bisherigen Filmen wurde den Schauspielern von Disney Gelegenheit gegeben, ihre Figuren selbst zu charakterisieren, auch wenn das dem Ursprungsmaterial teilweise geradezu entgegenläuft. Gerade Phil Harris hat Balu so sehr seinen eigenen Stempel aufgedrückt, dass er die gestrenge Darstellung des Bären im Buch völlig in Vergessenheit geraten lässt. Auch wenn Baghira sich in Film und Buch nicht stark unterscheidet - er stellt in beidem eine Art liebevollen, doch vernünftigen großen Bruder für Mogli dar - rutscht er durch Balus Veränderung im Film in die Rolle des Spielverderbers, der einen Kontrast zu dem freundlichen Tunichtgut des Bären darstellt.
Ansonsten liegt der größte Unterschied wohl in der Figur von Kaa, der im Buch eine zwar unheimliche, aber Mogli eindeutig wohlgesonnene Rolle innehat und ihm ohne zu zögern das Leben rettet. In Film ist Kaa ein Bösewicht, der mehrfach versucht, das Menschenjunge zu fressen, aber gleichzeitig zeigt er sich (wohl gerade durch Sterling Holloways Stimme) sehr viel leichtherziger, freundlicher und weit weniger beängstigend, als man es von einer Würgeschlange erwarten könnte. Sogar seine Hypnosefähigkeit, die Mogli im Buch nichts anhaben kann, hilft hier eher, die Stimmung zu lockern, als sie zu verschärfen.
Generell liegt im Buch durchgehend weit mehr Betonung auf Moglis Überlegenheit den Tieren gegenüber. Es ist nicht nur Kaa, dem er alleine widerstehen kann, auch die anderen Tiere können den Blick des Menschenjungen nicht erwidern. Im Film ist es nur die fehlende Angst vor dem Feuer, der Roten Blume, die Mogli von den Tieren unterscheidet, doch dafür zieht sich dieser Punkt weit mehr durch die gesamte Geschichte, vom Angriff der Affen bis zu Shir Khans allgegenwärtigem einzigen Schwachpunkt. Diese Angst ist es auch, die die animalische Seite des Tigers betont, denn ansonsten benimmt er sich weit distinguierter und menschlicher als sein brutal-raubtierhaftes Buchvorbild.
Die Geier und Colonel Hathi, die im Buch nur angerissen werden, bekommen im Film einen eigenen Charakter, während der Affenkönig Loui vollkommen neu erfunden ist.



Doch die größte Freiheit, die sich der Disneyfilm mit Kiplings Buch nimmt, liegt nicht in dem, was er hinzufügt, sondern darin, was unterschlagen wurde. Im Buch gibt es drei Geschichten über Mogli, aber die Verfilmung endet mit seiner Rückkehr ins Menschendorf, ohne die dortigen Probleme auch nur anzudeuten. Zwar ist Mogli im Film weit zögerlicher, zurückzugehen und es braucht erst das Mädchen, das ihn zu den Menschen lockt, aber insgesamt wird seine Rückkehr doch als perfektes Happyend dargestellt.
In der Geschichte Moglis Siegeslied wird ein anderes Licht auf die Menschensiedlung geworfen: Die Einwohner sind einfältig, arrogant und von ihrer Halb-Zivilisation verdorben und es braucht nicht lange, ehe Mogli flieht und zu seinem alten Leben im Dschungel zurückkehrt. Von dieser bemerkenswert naturverbundenen Aussage ist im Film nichts mehr vorhanden - auch hier zeigt sich die Disneyversion um einiges leichtherziger als das beinahe tragische Buchende.

Es ist unzweifelhaft, dass der Film Das Dschungelbuch eine sehr viel freundlichere Adaption von Kiplings Buch darstellt, gerade wie es Walt Disney beabsichtigt hatte. Am Vorspann mit seiner schwermütigeren Musik lässt sich vielleicht absehen, wie eine andere, originalgetreuere Richtung der Verfilmung hätte aussehen können, und auch diese Version wäre sicher interessant geworden. Aber trotz aller Abweichungen stellt der Film so wie er ist eine in sich schlüssige Darstellung von Kiplings ersten beiden Geschichten dar, die von der Komposition der Handlung her dem episodenhaften Original sicher überlegen ist.


Mehr von mir gibt es auf www.AnankeRo.com.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ich habe beide Dschungelbücher gelesen und war von ihnen immens begeistert.
Natürlich kannte ich Disneys Meisterwerk bereits vor dem ersten Lesen, da ich als Kind der 90er mit dem Film aufgewachsen bin.
Und auch wenn ich Disneys "Dschungelbuch" mag, finde ich den Grundton der Bücher ansprechender. Und in meinen Augen unterscheiden sich Film und Buch sogar sehr stark. Von vorne bis hinten ist der Film anders.

Ich finde, dass eigentlich nur noch die Namen der Figuren gleichgeblieben sind, sowie die gröbste Handlung. Jeder vorkommende Charakter wurde verändert. Baghira am wenigsten, das stimmt. Aber ihn mochte ich seltsamer Weise schon als Kind am liebsten... ^^

Dennoch handelt es sich um einen unglaublich schönen, lustigen Film. Aber mit der Vorlage hat er wenig gemein. Wenn nicht sogar von allen Meisterwerken am wenigsten...

Am "schlimmsten" finde ich, das Mowgli das "w" in seinem namen für diesen Film büßen musste. Was in diesem Artikel leider auch nicht zwischen Buch und Film unterschieden wird...

Aaaaber: gute Bücher, guter Film, guter Artikel, gute Reihe!

Weiter so! :)

Ananke hat gesagt…

Was den Grundton der Bücher angeht, so bin ich ganz deiner Meinung - wie gesagt, der ursprüngliche Filmansatz, der im Vorspann noch leise mitschwingt, dürfte sehr interessant gewesen sein.
Aber handlungstechnisch nutzt der Film - dafür, dass er eben nur auf zwei der Geschichten fußt - seine Vorlage imo eben nicht schlecht aus. Es ist immer schwierig, aus einem Episodenroman einen durchgängigen Film zu schaffen. Alice im Wunderland und Winnie Puuh umgehen das Problem, indem sie die Episodenhaftigkeit beibehalten, Pinocchio und Das Dchungelbuch stellen eine einigermaßen kohärente Filmhandlung vor die absolute Buchtreue. Es ist wohl stark geschmacksabhängig, was einem nun besser gefällt, aber da der Ansatz nun einmal so gewählt wurde, finde ich das Ergebnis nicht schlecht gelungen.

Was das w in Mo(w)glis Namen angeht, so handelt es sich dabei ja nur um eine unterschiedliche Schreibweise. In Film wie in Buch wurden alle Namen in ihrer Schreibweise der deutschen Aussprache angepasst, und dabei passt 'Mogli' wohl besser in das Schema als das immer noch englisch auszusprechende 'Mowgli'.

DMJ hat gesagt…

Wie wohl die meisten Leute, kannte ich den Stoff hier auch jahrelang nur über den Film (und habe mich noch gewundert, was das Buch im Titel macht ;) ) und habe die Vorlage erst vor relativ kurzer Zeit nachgeholt.
War doch erstaunlich, wie anders da alles war! Gerade Kaa, der ja im Film ein schräger, aber trotz seiner Hypnosefähigkeiten eher wenig bedrohlich klingender Schurke ist, auf einmal als blutrünstige Superwaffe auf Seiten des Guten zu sehen, war eine ziemliche Überraschung.

Gerade, weil Film und Buch hier aber so absolut auseinandergehen, habe ich auch wenig Probleme mit mangelnder Vorlagentreue. Als Verfilmung würde es wohl tatsächlich ziemlich versagen, aber als solche versucht es sich ja praktisch gar nicht, wie du ja noch mit Infos aus dem Studio ausführst. Wobei mich sicher mit milde stimmt, dass es bis heute einer meiner liebsten Disneyfilme ist.

Kommentar veröffentlichen